James schreckte hoch. Wie spät war es? Er schaltete das Licht ein und sah auf die Uhr. Es war 05:20 Uhr. Er schleppte sich unter die Dusche, auch wenn er wusste, dass es nichts bringen würde. Wenn er ankäme, würde er so oder so verschwitzt sein. Zum ersten Mal kamen ihm Zweifel. Was, wenn sie ihn einfach auslachte, oder noch schlimmer, gar nicht erst kam? Vielleicht hatte er sich das alles nur eingebildet - die Blicke, das Lächeln, die Aufmerksamkeit. Er hatte so viel von sich selbst, seinen Gefühlen und seinem Mut in diese Begegnung gelegt, war seinem Instinkt gefolgt, der ihm sagte, dass es das Richtige war. Jetzt, da er darüber nachdachte, wurde ihm klar, wie verletzlich er war und wie abhängig. Was also, wenn der Plan dann nicht aufging?
Dennoch freute er sich, denn heute war endlich der Tag gekommen, auf den er schon seit Wochen gewartet hatte. Dass heute dieser Tag war, verlieh ihm Energie. Und so verliess er um 05:45 das Haus und begann den Fussmarsch. Er hätte auch den Zug nehmen können, doch das fühlte sich nicht richtig an. Vielleicht wollte er sich selbst beweisen, dass er jeden Schritt bewusst ging – für sie. James hätte tausend Meilen zurückgelegt, wenn sie am Ende auf ihn wartete.
Als er schon ein gutes Stück Wegstrecke zurückgelegt hatte, ging die Sonne auf und färbte den Himmel scharlachrot. Er nahm seine Kopfhörer ab und ließ den Blick über die verschneiten Felder schweifen. Besser könnte es kaum sein, dachte er. Nur ein kurzer Moment der Ruhe, bevor die Nervosität wieder die Kontrolle übernahm.
Nach knapp anderthalb Stunden erreichte James den Kreisverkehr am Stadtrand. Sein Herz wurde träge, so auch seine Schritte. Sein Atem wurde flacher, schneller - die Nervosität kroch in ihm hoch. "Ich bin noch zu früh.", murmelte er. "Ich habe noch mindestens zehn Minuten. Ich kann das!" Er ging noch ein Stück weiter, ehe er sich auf einer Betonmauer gegenüber einer Bushaltestelle niederliess. Sitzend verlor er sich in seinen Gedanken. Was sollte er sagen? Wie würde sie reagieren?? Eine Frage jagte die andere, während die Uhr tickte, Sekunde um Sekunde.
Als der Zeitpunkt verstrichen war, an dem sie sich verabredet hatten, kamen erneut Zweifel in ihm hoch. Er konnte nicht glauben, dass sie ihn stehen liesse, also wartete er weiter. Eine Minute, zwei, drei, wartete, bis sie schliesslich kam. Ihr Haar wehte im Wind wie die Schwingen eines Phönix und die tief stehende Sonne liess es in Flammen stehen.
Phoenix war ihr Name und diesem wurde sie auch mehr als gerecht. Sie war umwerfend mit ihren tiefblauen Augen, dem wohlgeformten Körper, dem rundlichen Gesicht und einer Stimme, die durch Mark und Bein ging. Noch mehr berührte ihn aber ihr Wesen, ihre Fähigkeit zuzuhören und sich in andere hineinzuversetzen. "Hallo James, sorry für die Verspätung.", begrüsste sie ihn.
Er antwortete: "Morgen, ich hatte schon befürchtet, du kommst gar nicht mehr oder hast mich vergessen." Er sah ihr das erste Mal länger in die Augen, studierte das Muster ihrer Iris – trotz des Verkehrs, der ungeduldig um den Kreisel strömte. Als suchte er darin etwas, das er nie ganz hatte verstehen können. "Wollen wir?", fragte er. Sie sagte nichts, sondern ging schweigend neben ihm her. James beobachtete sie aus dem Augenwinkel. Sie wirkte etwas verspannt, aber ruhig.
"Ich muss dir etwas sagen.", begann er. Phoenix hob den Blick und sah ihn an. Im ersten Moment wirkte sie etwas perplex, im nächsten gespannt darauf, was folgen möge. "Ich weiss nicht, wie ich es dir am besten sagen soll, aber… sagen wir mal, ich habe ein Auge auf dich geworfen. Was ich nicht sagen kann, ist auf diesem USB-Stick gespeichert. Du brauchst das darauf enthaltene Programm, um die Nachricht entschlüsseln zu können." Sie lächelte, sagte aber noch nichts. James sah sie an und versuchte ihr Gesicht zu lesen - ohne Erfolg.
"Seit wann denn genau?", fragte sie. "Seit dem Skilager, oder?" Er nickte stumm.
"Kann es sein, dass du dich für Charlie interessierst? Im Skilager schien es mir so", fragte James schliesslich, um die Stille zu brechen. Daraufhin erwiderte sie, dass das im Skilager so gewesen war, aber mittlerweile nicht mehr zutreffe.
Sie erreichten das Schulhaus und gingen schweigend auseinander.
Am Abend, müde und voller Ungewissheit, sah James nochmal auf sein Handy. Nur eine Nachricht war eingegangen. Absender: Phoenix.
Hallo James
Ich habe deine Nachricht gelesen und es ist so, dass ich keine Gefühle für dich empfinde. Das wird sich auch nicht ändern. Ich will trotzdem, dass du weisst, dass mir deine Lebensumstände mega leidtun und ich möchte dir das Leben nicht schwer machen, aber ich finde es trotzdem wichtig, auf Gefühle zu hören. Mit deiner Nachricht habe ich mich auch ein wenig überfordert gefühlt und es hat mich ein wenig unter Druck gesetzt. Das soll dir helfen bei Situationen wie dieser.
Ich kann dir den Stick morgen in der Schule wieder zurückgeben, wenn du willst. Ich danke dir, dass du mir diese Informationen anvertraut hast - ich werde sie vertraulich behandeln.
Ich hoffe, dich nicht zu sehr verletzt zu haben und auch, dass du keine weiteren Verluste wie diesen erlebst.
Phoenix
Wie versteinert starrte er auf das Display. Er las die Nachricht nochmal und noch einmal. Der Boden sackte unter ihm weg. Alles, worauf er gehofft hatte, woran er geglaubt hatte…
Alles war zu Asche zerfallen.